Mit buddhistischer Gelassenheit im Malatelier

Fast ein Jahrzehnt Malatelier

2006 regte Tenzing die Gründung des nun von ihm geleiteten Malateliers an. Auch an der Schaffung einer Kunstkommission war er beteiligt. Seither findet unter seiner Regie jährlich eine öffentliche Bilderausstellung statt. In Tenzings Arbeit als Leiter des Malateliers fliessen Erfahrungen aus der Zeit in der französischen und deutschen Schweiz sowie aus seiner tibetisch-buddhistischen Kultur ein. Gerne verwendet er dazu auch die von seinem Bruder Lama Chodak Gyatso Nubpa entwickelten «Tools for Peace». Es handelt sich dabei um konkrete Werkzeuge für Frieden, Mitgefühl und Wohlbefinden. Es war auch dieser Bruder, der Tenzing nach dessen früher sehr weltlich orientierten Aktivitäten in Paris ermutigt hatte, dem Weg seiner heutigen Berufung zu folgen. Lama Gyatso sah darin eine gute spirituelle Übung in Bescheidenheit und Überwindung des Egos.

Die Wege des Karmas

Sieht man Tenzing heute bei der Arbeit, vermutet man nicht, welch bewegtes Leben er bereits hinter sich hat. Kurz nach seiner Geburt musste seine Familie das durch die chinesische Besetzung unerträglich gewordene Leben in Tibet verlassen. «Nachts waren wir unterwegs, während wir uns am Tag in Grotten versteckten, um nicht in die Fänge der chinesischen Armee zu geraten», erinnert sich der Tibeter. «Trotzdem

kostete die mehrjährige Flucht durch steile Täler und über unwegsame Pässe des Himalayas, bei der wir Kinder in Körben auf dem Rücken von Yaks versteckt waren, neun meiner vierzehn Geschwister das Leben.» Um der Situation als Flüchtling im indischen Exil zu entkommen, wurden die überlebenden Kinder in alle Welt zerstreut. Der vom Dalai Lama ausgewählte Tenzing kam bereits im Alter von fünf Jahren nach Frankreich. Dort wuchs er zusammen mit anderen tibetischen Kindern in verschiedenen Internaten auf. Seine tibetischen Pflegeeltern standen unter grossem Druck, die Kinder zur zukünftigen Elite Tibets auszubilden. Zur Züchtigung der Pfleglinge waren auch Misshandlungen an der Tagesordnung. Später studierte Tenzing an Kunsthochschulen in Lyon und Paris. «Nie hätte ich damals geahnt, dass ich einmal meine künstlerischen Kenntnisse in einem Schweizer Pflegeheim einsetzen würde», sagt Tenzing, während er der ganz in ihr Schaffen vertieften alten Dame einen neuen Pinsel reicht. Noch weniger hätte er geahnt, dass er seine Berufung schliesslich als Pflegeassistent finden würde, war doch sein früheres Leben in Frankreich von politischen Aktivitäten geprägt. In seinem Buch «Tibet mort ou vif» (erschienen 1990) erwähnt ihn Pierre-Antoine Donnet im Zusammenhang mit seinen Aktivitäten für einen Dialog mit den Führern chinesischer Dissidenten. In den 80-ern nannten die damalige First Lady Danielle Mitterand und ihre Mitarbeiter ihn «unseren Tibeter», während er für den Dalai Lama «unser Mann in Frankreich» war. Doch seit der Dalai Lama die Idee eines unabhängigen Tibets aufgegeben hat, distanzierte sich Tenzing von der Politik der Exiltibeter. In der Besetzung seiner Heimat sieht er eine Form des Neokolonialismus. «Als Buddhist bin ich gegen terroristische Aktivitäten, denn wer weiss, ob ein Tibeter nicht in eine chinesische Familie wiedergeboren wird, aber ich halte am Widerstand gegen die chinesische Besetzung fest.» Er ist empört, dass trotz der an seinem Volk verübten Gräueltaten Handel mit China betrieben wird, während man dem tibetischen Volk das Recht auf Existenz aberkennt. Seit Tenzing in der Schweiz lebt, gleicht sein Leben eher einer Retraite, die ihm erlaubt, sich seiner spirituellen Praxis zu widmen. Er führt unterdessen ein einfaches, zurückgezogenes und sehr gesundes Leben, raucht und trinkt nicht und als Buddhist verzichtet er seit vielen Jahren auch auf den Konsum von Fleisch. Ausgebildet wurde Tenzing in der Pflegeschule Fribourg. Mittlerweile arbeitet er seit dreizehn Jahren als Pflegeassistent auf verschiedenen Stationen und Wohngruppen der Stiftung Siloah. Ein Teil seines Vollzeitpensums entfällt auf seine Tätigkeit als Maltherapeut und Leiter des Malateliers. Unter den betreuten Bewohnern waren auch Menschen mit der Erbkrankheit Huntington Chorea oder Multiple Sklerose. «Es mag seltsam klingen, aber ich hatte nie das Bedürfnis, beruflich aufzusteigen, denn die Betreuung und persönliche Begleitung der Heimbewohner erfüllt mich voll und ganz. Aber selbstverständlich bin ich immer offen für Weiterbildungsangebote. »

Heimbewohner als Lehrmeister

«Manche strapazieren meine Nerven wie sonst niemand. Andere haben solche Schmerzen, dass sie mich in direktem Kontakt mit vitalen Konflikten bringen. Sie sind bessere Lehrmeister als jeder Ausbildner.» Zum Glück sei jeder Patient ein Einzelfall – eine Standardisierung von Pflege und Betreuung sei deshalb entgegen allen Versuchen nicht möglich. Gerade in der Klassifizierung der Bewohner sieht Tenzing die Gefahr der Entmenschlichung in der Pflege. Jeder ist zwar ein Individuum, doch alle teilen dieselben menschlichen Grundbedürfnisse. Alle fühlenden Wesen, so auch die Tiere, teilen das Streben nach Glück und die Vermeidung von Leid, sagen die Tibeter. Gute Betreuung hängt für Tenzing nicht nur von Diplomen ab. Wünschen sich doch die Betreuten vor allem menschliche Qualitäten, wie zum Beispiel liebevolle Kommunikation. Oft würden sich Heimbewohner lieber Putzfrauen oder Pflegehilfen anvertrauen, da diese manchmal menschlichere Zuhörer seien. Seit Tenzing in der Schweiz lebt, hat er viele Unterweisungen tibetischer Lamas aus seiner Tradition erhalten. Darunter auch solche seines verstorbenen Bruders. «Meine Arbeit ist dann das ideale Feld, um die Lehre in die Praxis umzusetzen». Tenzing ist überzeugt, dass seine Berufung mit seinem in früheren Leben angehäuften Karma verbunden ist. Schmunzelnd meint er: «Das Karma irrt sich nie in der Adresse.»

Lama: Bezeichnung für einen spirituellen Meister im tibetischen Buddhismus.

Original Text: Krankenpflege 10/2014

Ugen Tenzing Nubpa ist 1958 in Tibet geboren. Die Liebe zu einer Schweizerin brachte ihn vor mehr als 20 Jahren in die Schweiz. Er ist Vater zweier Söhne. In Frankreich organisierte er die Besuche des Dalai Lama und war dabei für ein Team von rund 200 Mitarbeitern verantwortlich. Er beteiligte sich an Aktionen des Tibet Youth Congresses in Europa und war Mitbegründer verschiedener Tibeter- Vereine. Bevor er in der Pflege seine Berufung fand, war er Mitarbeiter des Historischen Museums Bern, Kunstmaler, Lehrer für Tibetisch und Kunst sowie Jurastudent.